Flüchtlinge als „Eiterbeulen“

13.5.1946
Flüchtlinge als "Eiterbeulen"

Ob sie es wohl sehr lustig gefunden haben, daß man sie als "Eiterbeule" bezeichnet hat? Wie eine Eiterbeule seien die faulen und arbeitsscheuen Flüchtlinge über Bayern gekommen, hieß es im Mai 1946 nämlich in einem Artikel des landwirtschaftlichen Wochenblatts. Klingt ja nicht gerade freundlich. Und dabei sollte sich das Problem sogar noch verschärfen. Bis zum Jahr 1948 mußten 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene im Vier-Zonen-Deutschland untergebracht werden. Zwölf Millionen!! Ja, wo sollten die denn alle hin? Nur wenige Städte Deutschlands waren von den Zerstörungen des II. Weltkriegs verschont geblieben, nur wenige Gegenden litten nicht unter dem akuten Versorgungsnotstand. Das Land Bayern gehörte neben Schleswig-Holstein und Niedersachsen zu den Gebieten mit den höchsten Zuteilungsquoten. Fast zwei Millionen Neubürger wird es bis Ende 1948 in Bayern geben, das waren rund 21% der Bevölkerung. Nun also, wohin mit ihnen? In den Ruinen-Städten der Trümmerzeit war beim besten Willen kein Platz mehr für sie, also blieben nur ländliche Gegenden, weil dort die Wohngebiete noch weitgehend intakt geblieben waren. Doch da sorgten Zwangseinquartierungen in Privathäusern oft für böses Blut. Es kam sogar vor, daß die betroffenen Hausbesitzer mit der Hacke auf die Fremden losstürzten, die dann nur mit Begleitschutz die zugewiesenen Räumlichkeiten beziehen konnten, was natürlich das alltägliche Miteinander sehr schwierig gestaltete. Die andere Möglichkeit der Unterbringung war auch nicht viel besser, ganz im Gegenteil. In Massenlagern oder provisorischen Barackensiedlungen waren sie völlig abhängig von der Fürsorge von außen, also vor allem vom Rote Kreuz und anderen karitativen Organisationen.
Menschenunwürdige Zustände herrschten vielerorts in den Lagern; auf engstem Raum zusammengepfercht, ohne Koch- oder Heizmöglichkeit, bei völlig unzureichender Ausstattung mit Waschgelegenheiten und Toiletten, bestand akute Seuchengefahr. Wanzen- und Läusebefall waren ohnehin an der Tagesordnung. Hätten diese himmelschreienden Zustände allein schon ausgereicht, daß die Leute dort immer mehr verwahrlosten, so kam es durch die zusätzlichen psychischen Belastungen wie Verlust der Heimat und des Besitzes oder die traumatischen Erlebnisse während der Flucht zur berüchtigten Lagerlethargie. Auswegslos schien die Lage: zurück konnten sie nicht mehr und hier wollte sie niemand haben. Dabei hätte man in der Landwirtschaft durchaus Arbeitskräfte brauchen können, aber dazu seien die Flüchtlinge sich ja zu fein, meinte der gescheite Eiterbeulen-Schreiberling. Die Wirklichkeit sah ein bißchen anders aus: die Kleidung und das Schuhwerk war vielfach so zerlumpt, daß an ein Verlassen des Lagers gar nicht zu denken war. Außerdem verstanden viele der Flüchtlinge sich überhaupt nicht auf diese Arbeit, waren sie doch häufig als hoch spezialisierte Handwerker und Industriearbeiter ausgebildet worden. Doch an solchen Arbeitsstätten mangelte es im agrarischen Bayern der Trümmerzeit. Naja, dann muß man sich die eben selber schaffen. Und genau das haben viele der Flüchtlinge und Vertriebenen auch getan. Ganze Städte sind so im Lauf der Zeit entstanden, Neugablonz, Waldkraiburg, Traunreut oder Geretsried zum Beispiel. Und überall versuchten sich dort die Menschen mit sehr viel Fleiß eine neue Existenz aufzubauen als Handschuh- oder Spielzeugmacher, als Glas- oder Schmuckhersteller, als Kunstblumen- oder Instrumentenfertiger.

Daß diese vielen Menschen letztendlich in Bayern eine neue Heimat gefunden haben, ist also nicht zuletzt ihrer eigenen Initiative zu verdanken. Das hat dem stark bäuerlich geprägten Land neue wirtschaftliche Impulse gegeben und eine Entwicklung hin zum modernen Industriestaat eingeleitet. Vielleicht könnten von den Flüchtlingen heutzutage einmal ähnlich wichtige Impulse ausgehen? Und wenn die Bayern damals trotz großer Zerstörungen und fehlender Mittel ihre zwei Millionen Neubürger untergebracht haben, dann sollte es doch heute, in diesem so ungleich besser versorgten Land, auf die paar neuen Flüchtlinge auch nicht mehr drauf ankommen. Oder?