Händedruck für Vergessene

Ein Händedruck für Vergessene. 
Das Besuchsprogramm für die in der NS-Zeit emigrierten Münchnerinnen und Münchner.

in: zeitenweise. Geschichtsmagazin für München, Nr. 1, Geschichte und Gedächtnis, Dezember 1997, S. 12-13.

1960 beschlossen alle Fraktionen des Münchner Stadtrats ein „Besuchsprogramm für Münchnerinnen und Münchner jüdischen Glaubens, die zwischen 1933-1945 aus ihrer Heimatstadt emigrieren mußten“. München, ehemalige „Hauptstadt der Bewegung“, wollte mit diesem Programm symbolische Wiedergutmachung leisten und sich somit der historischen Verantwortung stellen. Den Auftakt machte die Stadt mit einem Neujahrsgruß, der als Anzeige in deutschsprachigen Zeitungen vieler Länder (u.a. USA und Israel) zum Jahreswechsel 1960/61 erschien: „München grüßt alle früheren emigrierten Mitbürger“. Weiter wurde um ein Lebenszeichen gebeten, damit eine Verbindung zur alten Heimat hergestellt werden kann. Diese Anzeige, die in den folgenden Jahren wiederholt platziert wurde, ist als versöhnliche Geste äußerst positiv aufgenommen worden. Der Journalist Hans Habe, selbst jüdischer Herkunft und Emigrant, drückte allerdings in einem Leitartikel der Abendzeitung vom 16.3.1963 unter dem Titel „Ein Händedruck für Vergessene“ sein Erstaunen darüber aus, daß bisher nur eine einzige Stadt in Westdeutschland fähig war, eine solche menschliche Botschaft auszusenden, jenseits von materiellen Wiedergutmachungsleistungen: „Man hat jenen, die noch ein ‘Lebenszeichen’ von sich geben können, einen Scheck gereicht. Man hätte ihnen auch die Hand reichen sollen.“ In den meisten Briefen der Überlebenden, die sich im Laufe der Jahre meldeten, ist das Heimweh nach der verlorenen Heimat deutlich spürbar. „Was mir München gegeben hat, trage ich unvergeßlich in mir“, schrieb ein Emigrant aus Israel. Ein anderer Emigrant aus den USA schickte eine von ihm besprochene Kassette, „damit Sie sich überzeugen, daß i immer no da oide Münchner bin“. Und dann folgt eine Geschichte nach der anderen aus den alten Münchner Zeiten: „Jessas na, kannt i Eich erzähl´n, stundenlang ohne Ende, wie schön das alles war… Ein Glück, daß einem die Erinnerung bleibt“.

Der warmherzig abgefaßte Aufruf hat nicht selten eine „Mauer jahrelanger Verbitterung“ durchbrochen. Viele der damals Vertriebenen, die oft nur unter lebensbedrohlichen Umständen fliehen konnten, wagten erst jetzt wieder, Kontakt aufzunehmen. Nachdem der damalige Stadtrat Gelder für ein Besuchsprogramm bereitgestellt hat, konnten sie sich nun auf Kosten der Kommune bis zu 14 Tage in München aufhalten und die alten Stätten ihrer Erinnerung oder Freunde und Bekannte aufsuchen. Die Protokollabteilung der Stadtverwaltung, die dieses Besuchsprogramm organisiert, hat mittlerweile Aktenordner voller bewegender Dankschreiben, häufig gekoppelt mit Schilderungen von Emigrantenschicksalen oder Anfragen über verschollene Angehörige. Es kamen aber auch Briefe von Menschen, die nicht aus München stammten, weil sie die Geste so berührte, wie z.B. der Brief vom Januar 1963 aus New York: „Schon der Gedanke allein, auf diese Weise seiner ehemaligen Bürger zu gedenken, hat etwas Großartiges, Schönes, Tröstliches und Menschliches an sich, geschieht es doch heutzutage recht selten, daß eine Behörde, die nur ‘von Amts wegen’ zu handeln gewohnt ist, sich aus freien Stücken dazu entschließt, direkt von Mensch zu Mensch zu sprechen… München hat sich damit ein Denkmal im Herzen jedes rechtlich denkenden Menschen gesetzt und sich tausendfachen Dank verdient“.